Projekt Buchvorstellungen - EXTRA

 Andreas Steinhöfel

     Die Mitte der Welt


Weitere Informationen und Meinungen

Leserurteile:
23.03.2001 [email protected]
Hervorrand ist noch untertrieben....
Ein Kompliment an den Autor. Dieses Buch in Worte zufassen erscheint mir unmöglich. Ich habe schon sehr viele Bücher gelesen - doch dies ist mit das Beste gewesen. Dieses Buch muss man einfach gelesen haben. Der Autor hat auf alle Fälle einen neuen treuen Leser hinzugewonnen.
 
13.01.2001 Frankfurt Svea Garritzmann
Einfach klasse
Auch wenn die Inhaltsangabe nicht ganz stimmt, das Buch ist einfach wunderbar. Phil, der schwule Zwilling, ist absolout süß und sensibel. Das Buch habe ich verschlungen, es ist weltklasse. Wenn alle Coming- out- Romane so gut wären... Aber es kommt beim Lesen des Buches nicht darauf an, welche sexuellen Neigungen man hat.
 
15.12.2000 Julia
einfach perfekt
ein so außergewöhnliches buch habe ich bisher selten in den händen gehalten. es hat für mich eine besondere bedeutung, denn es ist ein einzigartiges werk, das andreas steinhöfel hier geschaffen hat. ich hoffe, dass auch weiterhin viele menschen dieses buch lesen und andreas steinhöfel auch weiterhin viel erfolg mit seinen werken hat!
 
29.09.2000 Höxter [email protected]
Die Leichtigkeit des Seins mal anders
Verträumt, romantisch, ein bißchen mystisch und jede Menge Leben pur. Die wunderbare Darstellung des Erwachsenwerdens eines schwulen Zwillings, angereichert mit jeder Menge Skurrilitäten - wie im richtigen Leben. Ein Buch zum Verschlingen.
 
08.09.2000
Eines der besten Bücher, die je gelsesen habe!
Die Mitte der Welt ist ein Buch, dass man gelesen haben muss (die körperlichen Neigungen sind dabei eher unbeachtlich).Man kann sich unglaublich gut in die Personen, natürlich insbesondere die Hauptperson, einfühlen und die Handlungsweisen und Gefühlswelten verstehen. Ich hoffe es war nicht das letzte Buch von Andreas Steinhöfel!!
 

 

Leseprobe:
MARTINS HANDTUCH
DIE MEISTEN MÄNNER, mit denen Glass Affären hatte, be- kam ich nie zu Gesicht. Sie kamen spätabends nach Visible oder nachts, wenn Dianne und ich längst schliefen. Dann schlugen Türen, und unbekannte Stimmen mischten sich in unsere Träume. Morgens fanden sich hier und dort verräteri- sche Spuren ihrer Existenz: ein noch warmer Becher auf dem Küchentisch, aus dem hastig starker Kaffee getrunken wor- den war; die Verpackung einer Zahnbürste im Badezimmer, achtlos zerknüllt und zu Boden geworfen. Manchmal war es nicht mehr als ein verschlafener Geruch, der in der Luft hing wie ein fremder Schatten.
Einmal waren es Telefone. Dianne und ich hatten das Wo- chenende bei Tereza verbracht, und als wir nach Hause kamen, standen die Apparate in unseren Zimmern, angeschlossen an frisch verlegte Kabel, der Putz an den Wänden noch feucht. Glass hatte sich einen Elektriker geangelt. "Jetzt hat jeder von uns seinen eigenen Apparat", stellte sie zufrieden fest, Dianne im linken Arm, mich im rechten. "Ist das nicht phantastisch? Findet ihr das nicht wahnsinnig amerikanische"
ICH LIEGE MATT auf meinem Bett, als das Telefon klingelt. Die Julihitze hat mich erschlagen, sie kriecht selbst bei Nacht durch die Zimmer und Flure wie ein müdes Tier, das nach ei- nem Schlafplatz sucht. Ich weiß, wer der Anrufer ist, weiß es seit drei Wochen. Kat - eigentlich Katja, aber bis auf ihre El- tern und einige Lehrer gibt es niemanden, der sie bei ihrem vollen Namen nennt - ist aus dem Urlaub zurück.
"Ich bin wieder da, Phil!", schreit sie am anderen Ende der Leitung.
"Unüberhörbar. Wie wär''s?"
"Ein Alptraum, und hör auf zu grinsen, ich weiß, dass du das gerade tust! Ich bin total elterngeschädigt, und die Insel war ein verdammtes Dreckloch, du kannst es dir nicht vorstel- len! Ich will dich sehen."
Ich blicke auf die Uhr. "In einer halben Stunde auf dem Schlossberg?"
"Ich wäre gestorben, wenn du keine Zeit hättest."
"Willkommen im Club. Ich hab mich in den letzten drei Wochen fast zu Tode gelangweilt."
"Hör zu, ich brauche länger, ungefähr eine Stunde? Ich muss noch auspacken."
"Kein Problem."
"Ich freu mich auf dich ... Phil?"
"Hm?"
"Ich hab dich vermisst."
"Ich dich nicht."
"Dachte ich mir. Arschloch!"
Ich lege den Hörer auf, bleibe auf dem Rücken liegen und blinzele eine Viertelstunde lang das blendende Weiß der Zim- merdecke an. Zypressenduft wird vom Sommerwind in Wel- len durch die geöffneten Fenster getrieben. Dann wälze ich mich aus dem verschwitzten Bett, greife nach Boxershorts und T-Shirt und tapse auf knarrenden Dielen durch den Flur in Richtung Dusche.
Ich hasse das Badezimmer auf dieser Etage. Der Rahmen der Tür ist verzogen, man muss sein ganzes Gewicht dagegen stemmen, um sie zu öffnen. Dahinter wird man von zersprun- genen schwarzen und weißen Kacheln, von Rissen in der Decke und rieselndem Putz begrüßt. Das veraltete Leitungs- system benötigt drei Minuten, bis es endlich Wasser liefert; im Winter ist der daran angeschlossene rostige Boiler nur durch heftige Fußtritte dazu zu bringen, sich entnervend langsam aufzuheizen. Ich drehe den Wasserhahn auf, lausche dem vertrauten asthmatischen Pfeifen der Leitung und be- dauere nicht zum ersten Mal, dass Glass sich nie mit einem Klempner eingelassen hat.
"Wegen der Rohrleitungen^", hat sie erstaunt gefragt, als ich sie irgendwann auf die praktischen Möglichkeiten einer solchen Liaison angesprochen habe. "Wofür hältst du mich, Darling - für eine Nutte?"
VISIBLES ARCHITEKT muss genauso verrückt gewesen sein wie meine Tante Stella, die vor über einem Vierteljahrhundert das bereits im Verfall begriffene Haus während einer Reise durch Europa entdeckt, sich in seinen für diesen Teil der Welt völlig untypischen Südstaaten-Charme verliebt und es auf Anhieb gekauft hatte. Für eine Hand voll Peanuts, Kleines, schrieb sie damals Glass begeistert und stolz nach Amerika. Ich habe sogar etwas Geld übrig, um es in die dringend notwen- dige Renovierung zu stecken!
Stella war finanziell unabhängig. Sie hatte die typische Kar- riere amerikanischer Highschool-Schönheiten hinter sich, die sich über ihre Zukunft erst dann Gedanken machen, wenn diese schon im Begriff ist, Vergangenheit zu werden: frühe Heirat, frühe Scheidung, zu spät eintrudelnde, aber relativ großzügige Unterhaltszahlungen. Große Sprünge konnte Stella mit dem Geld nicht machen, aber es reichte für ein halb- wegs sorgenfreies Leben. Es reichte für den Kauf von Visible.
Das von einem weitläufigen Grundstück umgebene Haus stand, wie Stella an Glass schrieb, auf einer Anhöhe am äu- ßersten Rand einer winzigen Stadt, jenseits des Flusses. Die zweigeschossige Fassade mit dem säulengestützten Vorbau, die kleinen Erker und die hohen Flügelfenster, das von un- zähligen Giebeln und Zinnen gekrönte Dach: All das war auf Kilometer gut sichtbar für jeden. Folgerichtig nannte Stella, auf der Suche nach einein passenden amerikanischen Namen, das gesamte Anwesen - das Haus, den dahinter liegenden Holz- und Geräteschuppen sowie den weitläufigen, an den Wald angrenzenden Garten, in dem mannshohe Statuen aus verfärbtem Sandstein wie erstarrte Wanderer herumstanden - Visible. Wie sich schnell herausstellte, reichte nach dem Kauf Visibles das übrige Geld kaum aus, auch nur einen Bruchteil der Renovierungskosten zu decken. Das Mauerwerk brök- kelte, das Dach war an mehreren Stellen undicht, der Garten glich einem Urwald.
Visible scheint darauf zu warten, in sich zusammenzusinken und von besseren Zeiten träumen zu können, schrieb Stella in einem ihrer immer seltener werdenden Briefe nach Boston. Und die Bewohner der Stadt warten ebenfalls darauf. Sie mö- gen dieses Haus nicht. Die großen Fenster machen ihnen Angst. Weißt du, warum. Kleines - Weil es ausreicht, diese Fenster aus der Ferne zu sehen, um zu wissen und zu fühlen, dass sie zu ei- nem weiten Blick auf die Welt zwingen.
Ich bin mit Fotos von Stella groß geworden, unzählige Aufnahmen, die Glass einige Monate nach dem Tod ihrer Schwester aus deren Unterlagen geklaubt und im Haus ver- teilt hat. Man begegnet ihnen überall, in der düsteren Ein- gangshalle, im Treppenhaus, in beinahe jedem Zimmer. Wie kitschige Heiligenbildchen hängen sie in billigen Rahmen an den Wänden, sind aufgestellt auf wackeligen Kommoden und Tischen, drängen sich auf Simsen und Fensterbänken. Mein Lieblingsporträt von Stella zeigt ihr kantiges, von der Sonne gebräuntes Gesicht. Sie hatte große, klare Augen mit unzäh- ligen Lachfältchen. Es ist das einzige Foto, auf dem meine Tante weich und verletzlich -wirkt. Aus allen anderen Bildern spricht eine Mischung aus kindlichem Trotz und stürmischer Herausforderung. Stella sieht darauf aus wie in Feuer gehärte- ter, gerade im Ausglühen begriffener Stahl.
Drei Tage bevor Glass auf Visible ankam, war meiner Tante der weite Blick auf die Welt zum Verhängnis geworden. Beim Fensterputzen war sie aus dem zweiten Stock des Hauses auf die Auffahrt gestürzt, wo tags darauf der Briefträger sie ent- deckte. Sie lag wie schlafend auf dem kiesigen Boden, den Kopf auf einen Arm gebettet, die Beine leicht angezogen. Ihr Genick war gebrochen. Später fand Glass das Telegramm, das sie selbst vom Schiff aus nach Visible gekabelt hatte, und den Entwurf einer Antwort, die ihre altere und einzige Schwester nicht mehr hatte abschicken können: Kleines, freue mich auf dich und Nachwuchs. Liebe, Stella.
Stellas Tod berührte Glass tief. Sie hatte ihre Schwester ab- göttisch geliebt, auch nach deren Weggang aus Amerika. Die Mutter der beiden war früh gestorben, am Großen K, wie Glass es nannte, und der Vater hatte sich an geistigen Geträn- ken deutlich interessierter gezeigt als am Schicksal seiner Töchter. Dass beide nach Europa verschwanden, nahm er so betrunken wie gleichgültig auf. Niemand weiß, was aus ihm geworden ist. Als ich Glass irgendwann auf meinen Großvater ansprach, sagte sie knapp, der amerikanische Kontinent habe ihn verschluckt und werde ihn hoffentlich nie wieder aus- spucken. Nach der ersten Trauer um Stella betrachtete sie de- ren Tod von der pragmatischen Seite. Einer von Glass'' Lieblingssprüchen ist, dass nichts geht, ohne dass etwas anderes dafür kommt. Der Tod hatte ihr Stella genommen und dafür Tereza gegeben: kein schlechter Tausch.
Ein ortsansässiger Anwalt wurde von der Stadtverwaltung damit beauftragt, die Papiere der toten Amerikanerin zu sich- ten und ausfindig zu machen, ob es Verwandte in Übersee gab. Der viel beschäftigte Mann schickte eine Praktikantin nach Visible, eine junge Frau mit langen roten Haaren, die sich - nach einem ersten gehörigen Schrecken - recht ge- schickt dabei anstellte, zwei neuen Verwandten Stellas in die Welt zu helfen. Tereza stammte aus der Stadt, der sie jedoch schon vor Jahren den Rücken gekehrt hatte, um irgendwo im Norden Jura zu studieren.
In der vor Kälte starrenden Nacht, die Diannes und meiner Geburt vorausging, war Tereza, die sich für die Dauer ihrer Untersuchung mit einem Schlafsack in Visible einquartiert hatte, fündig geworden. Stella hatte tatsächlich ein Testament hinterlassen. Darin erklärte sie ihre Schwester Glass zur allei- nigen Erbin Visibles und ihres gesamten Nachlasses. Die Sa- che gestaltete sich schwierig, es gab rechtliche Probleme ? Glass war nicht volljährig, sie war Amerikanerin, und sie be- saß keine Aufenthaltserlaubnis. Dass sie nur Englisch sprach, machte die Angelegenheit nicht einfacher.
Tereza nahm Glass unter ihre Fittiche und setzte sich bei dem Anwalt für sie ein. Der Mann mochte Tereza, er fand Ge- fallen an Glass, und er hatte Freunde, die wiederum Freunde in hohen Positionen hatten. Mehr als zwei Augen wurden zu- gedrückt, Gesetze vorsichtig gebeugt, Bestimmungen ge- schickt umgangen und wohlwollende Schreiben verfasst. Schließlich durfte Glass bleiben, doch das war nur ein erster Schritt. ...